11.10.2012

Betreuungsverein: Rechte zum Wohle der Betreuten durchsetzen

Seit 20 Jahren gilt in Deutschland das Betreuungsrecht, das Menschen, die betreut werden, weitestgehend selbstbestimmt leben lässt. Doch in der Praxis werden sie oft entmündigt. Damit das Recht auch umgesetzt wird, gibt es Betreuungsvereine, die ehrenamtliche Betreuer beraten, unterstützen und schulen. Zum Beispiel bei der Diakonie Pfalz in Ludwigshafen, die Gerda Müller bei der Betreuung eines Mannes mit geistiger Behinderung zur Seite steht.
Zu früh gefreut. Moritz Schmidt*, 42 Jahre alt, hat die Fahrradprüfung zwar bestanden, aber in die Pedale treten und losradeln darf er trotzdem nicht. Die Pflegerin des Wohnheims, in dem er wegen seiner geistigen Behinderung lebt, ruft zunächst bei seiner Betreuerin an und fragt, ob sie es erlaube, dass er Fahrrad fährt. Es ist nicht das erste Mal, dass Gerda Müller als ehrenamtliche Betreuerin für Moritz Schmidt entscheiden soll. „Ich war da erst einmal verdutzt: Was heißt das jetzt? Wenn ich es ihm erlaube, bin ich dann auch verantwortlich? Was ist, wenn etwas passiert?“ Eine gute Frage – die ihr Ralph Sattler vom Betreuungsverein Ludwigshafen im Diakonischen Werk Pfalz beantworten kann. „Die Frage, ob Sie es erlauben oder nicht, ist unsinnig“, sagt der 45-jährige Sozialpädagoge und schüttelt mit dem Kopf, „Betreuer sollen einem Menschen, der aufgrund einer psychischen Erkrankung, einer geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln kann, zur Seite stehen und ihn unterstützen, aber sie haben keine generelle Aufsichtspflicht wie bei kleinen Kindern“.
Die Praxis ignoriert das geltende Recht
Immer wieder erhält Sattler, der zurzeit 20 Menschen
hauptamtlich betreut, Genehmigungen von Einrichtungen, die er
unterschreiben soll. Vermeintlich habe das etwas mit Haftung zu tun.
„Dabei geht es meist nur darum, die Verantwortung abzugeben. Das
entspricht aber nicht der Rechtslage“. Auch nach 20 Jahren werde das
Betreuungsrecht in der Praxis oft nicht umgesetzt. Bis 1992 galt das
Vormundschaftgesetz, das den Betreuten weitestgehend entmündigte. Der
Vormund entschied vom Schreibtisch für meist um die 200 Vormundschaften.
Im aktuellen Betreuungsrecht steht dagegen die persönliche Betreuung im
Vordergrund. Damit sich der Betreuer auch tatsächlich nach den
Lebensumständen und Bedürfnissen des Betreuten richten kann, muss er ihn
persönlich kennen und vor allem auch fragen, was er überhaupt braucht
und will.
Gerda Müller kennt Moritz Schmidt, seitdem er fünf Jahre alt
ist. Als Säugling wurde er von der Mutter abgegeben und lebte seitdem in
einem sonderpädagogischen Zentrum mit Wohnheim und Schulwerkstatt.
Müller war dort Heilerziehungspflegerin und wurde durch Zufall, weil
sonst niemand da war, seine Taufpatin. Als er 1990 18 Jahre alt wurde,
übernahm sie die Vormundschaft für ihn, die 1992 mit der neuen
Rechtslage in Betreuung umgewandelt wurde. Was dahinter steckt, wusste
die heute 56-Jährige lange Zeit nicht. Immer wieder fragte sie sich: Ist
es eigentlich richtig, was ich hier mache? Was ist mein Recht, was
meine Pflicht?
Die Bewohner wurden nicht als Menschen mit Rechten gesehen
Sorge bereitete ihr vor allem die Situation im Wohnheim. Dort war Moritz Schmidt zwar groß geworden, fühlte sich aber nicht mehr wohl. „Die Einrichtung war sehr bevormundend. Credo war: Das sind Behinderte und wir wissen schon, was gut für sie ist“, erzählt Müller. Als sie ansprach, dass sich Moritz oft blutig kratzt, hieß es, das machen alle so. Das Handy, das sie ihm zum 30. Geburtstag geschenkt hatte, wurde ihm gleich wieder abgenommen. Auch der Fernseher, den er sich kaufen wollte, war nicht gerne gesehen. Erst recht nicht sein Wunsch, auf Kur zu gehen. Unterschiedliche Sichtweisen stießen hier aufeinander: Während Müller als Betreuerin sich darum kümmern wollte, was für den Betreuten gut ist, war der Fokus der Einrichtung: Was ist für den reibungslosen Ablauf in der Gruppe gut?
„Es war nicht gewünscht, dass ich mich als Betreuerin persönlich für ihn engagiere“, resümiert Müller, „Erst im Betreuungsverein habe ich gelernt, dass es im Grunde nicht nur mein Recht ist, sondern meine Pflicht, mich für den Betreuten einzusetzen, wenn er sich selber nicht durchsetzen kann“. Doch bis dahin war es ein langer und mühsamer Weg. Erst nach zehn Jahren als Betreuerin erfuhr sie von einer Bekannten, dass es überhaupt einen Betreuungsverein gibt. Im Grunde sollte diese Information vom Gericht kommen, das die ehrenamtlichen Betreuer bestellt. „Die meisten kommen zu uns, wenn sie ein Problem haben“, sagt Ralph Sattler. Niemand sei verpflichtet, sich einem Betreuungsverein dauerhaft anzuschließen. Dabei sei die Unterstützung auf lange Sicht von Vorteil: Sein Betreuungsverein bietet neben individuellen Beratungsgesprächen auch Austauschrunden für die Betreuenden untereinander an und schult sie in rechtlichen Fragen, zum Beispiel zum Thema Patientenverfügung.
Mut machen, für die Rechte als Betreuer einzustehen
Zentral für Gerda Müller war damals die Frage, ob Moritz
Schmidt in ein anderes Heim ziehen soll. „Ich habe mich lange nicht
getraut, diesen Schritt zu gehen“, erinnert sie sich. Mit wem sie auch
sprach - jeder sagte: Nein, mach das nicht. Der wird entwurzelt, der
lebt da seit 25 Jahren, das geht nicht. „Ralph Sattler im
Betreuungsverein war der erste und einzige, der mir Mut gemacht und
gesagt hat, trauen Sie sich“. Endlich sei jemand für sie da gewesen, der
all ihre Fragen beantworten konnte und half, ein passenderes Wohnheim
zu finden.
Doch auch in dem neuen Wohnheim lief nicht alles rund. Sein
größter Wunsch war, allein zu wohnen. Ein Einzelzimmer wurde aber
abgelehnt. „Moritz lässt sich leicht unterbuttern“, weiß Gerda Müller,
„Er wäre traurig gewesen und hätte geweint, es am Ende aber so
hingenommen“. Doch genau hier war sie als Betreuerin gefragt: „Herr
Sattler hat mir immer gesagt, dass das, was ich tue, für den Betreuten
ist. Es ist das, was er möchte, aber nicht umsetzen kann.“ Sie kämpfte
und setzte sich schließlich durch, so dass Moritz Schmidt mit über 30
Jahren nun das erste Mal ein Zimmer nur für sich hat.
Auch dem Fahrradfahren steht nichts mehr im Wege – schließlich wurde er extra zum Fahrradtraining geschickt, damit er auf der Straße fahren kann und hat es bestanden. Sicherheitshalber fährt er auf dem Bürgersteig und trägt einen Helm. Was für Moritz Schmidt aber vor allem zählt: Er kann jetzt die Umgebung mit dem Fahrrad erkunden – wie alle anderen auch.
*Name des Betreuten von der Redaktion geändert
Text und Foto: Diakonie/Ulrike Pape
Weitere Informationen:
www.betreuungsverein-diakonie-lu.de
www.fachverband-betreuungsvereine.de